Archive für 16.7.2011

Patientenschule

Zunächst einmal spricht man in einem Hospiz von „Gästen“ und nicht von „Patienten“. Und zwar deshalb, weil bei einem Patienten Aussicht auf Genesung besteht! Korrekterweise müsste die Überschrift meines Eintrags deswegen „Gästeschule“ lauten, nur ist das mehrdeutig und absolut unzutreffend. Ich behalte also hier vorerst die inkorrekte Terminologie bei - bis zur ‘Entdeckung’ eines zutreffenderen Begriffs. Vorschläge sind erbeten. „Morituri“ wurde übrigens verworfen, obwohl ich den recht klassischen Begriff nicht schlecht - und auch zutreffend - finde…

Man wird nicht als Patient oder Gast geboren, dafür ist eine harte, oft mit Schmerzen verbundene Ausbildung nötig. Nicht nur Menschen, die auf der Pflegeseite stehen, sollten auf Kommendes vorbereitet werden, auch als Patient ist die Ausbildung sinnvoll. Manche Menschen sind von Haus aus nämlich nicht allzu geduldig, andere tun sich schwer damit, Hilfe anzunehmen. Fügt man jetzt noch den stark selbstbestimmten (und -bestimmenden) Typus Mensch hinzu, wird deutlich, wo Reibungsflächen entstehen können. Ich bin ein Paradebeispiel des vorgenannten Typs. Ich habe lieber in Kauf genommen, zu stürzen als eine hingehaltene Hand zu ergreifen, egal, ob fremd oder bekannt. Folgerichtig bin ich einige Male lang hingeschlagen! Aus Schaden wird man klug, heißt es. Und auch bei mir setzt sich die eine oder andere Erkenntnis über eigenes Unvermögen langsam durch.

Damit komme ich in die erste Klasse der Patientenschule und lerne, dass eine hingehaltene Hand nicht immer ein zu umkurvendes Hindernis darstellt, sondern durchaus auch ein freundliches Hilfsangebot sein kann. So lernen wir also u.a. in der ersten Klasse nicht in jede Hand zu beißen, die in unsere Reichweite ragt, sondern erstmal zu schauen, warum sie da ist - und, ob wir sie nicht vielleicht brauchen könnten. Leider lerne ich sowas nicht so leicht, ich neige dazu, alles zu hinterfragen. Folgerichtig bin ich „sitzengeblieben“, während die anderen meines Jahrgangs versetzt worden sind und in den Genuss weiterführender Lektionen kommen. Darunter die Grundsätze des pflegerischen Miteinanders, wie die völlige Übernahme von Waschen, Putzen und Essen, bis hin zum Abschluss mit ständiger Gesellschaft und Streicheleinheiten.

Ich bin nicht für die „Hohe Schule“ geeignet, reagiere nach wie vor allergisch auf krasse Verletzungen meiner Privatspähre. Ich mag es immer noch nicht, wenn mir bis dato Fremde zu nah „auf die Pelle rücken“ und ihr Gesicht so nah vor meines bringen, dass nur noch eine Handbreit Abstand einen Kuss verhindert. Oder noch schlimmer: gestreichelt oder getätschelt zu werden. Lernt man auf Pflegeschulen nichts über Sphären und einzuhaltene Distanzen? Üblicherweise geht dem Streicheln ein privates Dinner voraus und darauf folgen weitere Zärtlichkeiten…

Mittlerweile wurde ich auch versetzt; ich besuche jetzt die 3.Klasse. Obwohl ich den Drang in Hände zu beißen bis heute unterdrückt habe, musste ich realisieren, dass eine weiterführende Schule für mich nicht geeignet ist. Ich lasse immer öfter Nähe zu und das ständige Gefühl, einen Kampf mit meinem Gegenüber austragen zu müssen, verschwindet nach und nach. Trotzdem ist da eine Grenze, die ich nicht überschreiten werde. Nicht weil ich nicht will, sondern weil ich nicht kann! Wie sagte mal eine Pflegerin: „auch eine abgemagerte Kuh wird kein Reh“. Wohl wahr.

Ich würde nie jemanden wegen persönlicher Antiphatien wegekeln. Natürlich habe ich im Lauf meines Hierseins “sortiert“. Das lässt sich über den langen Zeitraum von fast 3 Jahren kaum vermeiden! Wer mit meiner Art und der ungewohnten Kommunikationsweise nicht zurecht kam, blieb mir eben fern. Bei manchen der ehrenamtlichen Helfer war das durchaus gewollt, andere waren da eher Kolateralschäden. So oder so - ich habe ein (fast) reines Gewissen - und die Spreu vom Weizen getrennt. Soviel zu meinem Ausflug in den pflegerischen Darwinismus und zurück in die Patientenschule…

Meine Versetzung in die 4.Klasse der Patientenschule scheint sicher. Ich habe gelernt, geduldig zu sein und nicht zu sehr nach Äußerlichkeiten zu urteilen. Darüberhinaus ertrage ich Nähe fremder Menschen heute etwas besser… ;-)

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